Slide 15 Slide 2 Foto di Filippo Maria Gianfelice

Als neuer Mensch leben. Die geistliche Botschaft des Römerbriefes

2003 – Herder, Freiburg in.B.

Raniero Cantalamessa

EINFÜHRUNG

Dieses Buch möchte einen Weg der Neuevangelisierung und der geistlichen Erneuerung aufzeigen, der auf den Brief des Apostels Paulus an die Römer zurückgeht. Es handelt sich dabei weder um einen exegetischen Kommentar noch um eine theologische Abhandlung (beide liegen ihm freilich zugrunde), sondern um einen Versuch, unmittelbar auf das Ziel zuzugehen, das der Apostel anstrebte, als er seinen Brief schrieb. Und dabei ging es ihm mit Sicherheit nicht darum, den Christen Roms – und allen Christen nach ihnen – einen schwierigen Text zur Erprobung des eigenen kritischen Scharfsinns vorzulegen, sondern vielmehr darum, ihnen einige geistliche Gaben zu vermitteln, damit sie dadurch im gemeinsamen Glauben gestärkt und ermutigt würden (vgl. Röm i, iif). Der Römerbrief ist im Laufe der Jahrhunderte oft zum bevorzugten Objekt theologischer Diskussionen und Streitereien geworden. Und dabei wurde er gar nicht für einen begrenzten Kreis von Gelehrten geschrieben, sondern an das ganze Volk der »von Gott geliebten Heiligen« in Rom, das in seiner übergroßen Mehrheit aus einfachen, ungebildeten Leuten bestand. Sein Ziel war es, den Glauben zu vertiefen und zu stärken.

Aus diesem Grunde ist der Römerbrief das ideale Hilfsmittel im Hinblick auf eine Neuevangelisierung, der beste Entwurf für Volksmissionen, Einkehrtage und Exerzitienkurse. Er beschränkt sich nicht darauf, die offenbarten Wahrheiten, so bedeutsam diese auch sind, eine nach der anderen gewissermaßen statisch vorzustellen, sondern zeichnet einen Weg vor: vom alten, von Sünde und Tod gekennzeichneten Dasein hin zu einem Leben als »neue Schöpfung in Christus«; vom Leben »für sich selbst« zum Leben »für den Herrn« (vgl. Röm 14, 7f). Der Weg hat den Verlauf und die Dynamik eines österlichen Exodus.

Dem paulinischen Text ist der Titel des Buches entnommen (Röm 6, 4), das Grundschema des Weges und die verschiedenen Abschnitte, die ihn gliedern, mit ihrem Aufbau und ihrem Verlauf und schließlich – als Wichtigstes von allem – die Worte, mit denen diese Abschnitte charakterisiert sind: Es sind Worte Gottes, und als solche sind sie »lebendig und ewig«, wirksam aus sich selbst heraus, unabhängig von jedem Schema oder jeder speziellen Verwendung.

Dieser Weg gliedert sich in zwei Teile bzw. grundlegende Abschnitte: ein erster (»kerygmatischer«) Teil zeigt das von Gott für uns in der Geschichte vollbrachte Werk, während ein zweiter (»paränetischer«) Teil (beginnend mit dem 12. Kapitel des Briefes und in diesem Buch mit dem Kapitel über die Liebe) uns das Werk vorstellt, das der Mensch zu vollbringen hat. Der erste Teil zeigt uns Jesus Christus als Gabe, die durch den Glauben angenommen werden soll, der zweite stellt uns Jesus Christus als Beispiel vor Augen, das durch die Aneignung der Tugenden und die Erneuerung des Lebens nachzuahmen ist. Auf diese Weise finden wir eine Hilfe, eine der Synthesen und Ausgewogenheiten wiederherzustellen, die zu den wichtigsten gehören und im geistlichen Leben am schwierigsten beizubehalten sind: das Gleichgewicht zwischen dem mysterischen und dem asketischen Element, zwischen dem Anteil der Gnade und dem der Freiheit, zwischen dem Glauben und den »Werken«.

Die bedeutsamste Lehre des Römerbriefes liegt – noch vor dem, was im einzelnen ausgesagt wird – in der Anordnung der Aussagen. Der Apostel behandelt nicht zuerst die Pflichten des Christen (Liebe, Demut, Gehorsam, Dienst usw.) und dann die Gnade, gleichsam, als sei diese eine Konsequenz, die aus jenen hervorgeht, sondern er spricht im Gegenteil zuerst von der Gnade (der Gerechtmachung durch den Glauben) und dann von den Pflichten, die sich aus ihr ergeben und die wir allein durch sie zu erfüllen vermögen.

Das Mittel oder Instrument, mit dem der hl. Paulus all dieses ausführt, ist das Evangelium: »Ich schäme mich des Evangeliums nicht«, sagt er. »Es ist eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt« (Röm 1, 16). »Evangelium« steht hier für den Inhalt des Evangeliums, für das, was in ihm verkündet wird, insbesondere der erlösende Tod Christi und seine Auferstehung. Die Quelle, aus der er uns zu schöpfen lehrt, ist also nicht die rationale Beweisführung oder die rhetorische Eindringlichkeit, sondern die nackte Verkündigung der göttlichen Taten, in der der Glaubende die Kraft Gottes erfährt, die ihn rettet, ohne sich das Wie und das Warum erklären zu können oder auch nur die Notwendigkeit einer solchen Erklärung zu empfinden.

Die häufige Bezugnahme auf bedeutende Stimmen der antiken und der modernen Kultur – zusätzlich zu denen der kirchlichen Tradition – bezweckt also nicht, das Wort Gottes zu beweisen oder auszuschmücken, sondern vielmehr ihm zu dienen. Der Hauptgrund, warum jedes Zeitalter imstande ist, beim Befragen der Schrift immer tiefere Sinngehalte aus ihr zu schöpfen, ist der, daß jedes Zeitalter die Schrift auf einem anderen Bewußtseinsniveau und mit anderen, im Vergleich zu den vorangegangenen Epochen jeweils reicheren Lebenserfahrungen hinterfragt. Inzwischen hat nämlich die Kirche weitere Heilige und die Menschheit weitere Geistesgrößen hervorgebracht. Diese großen Denker sorgen – besonders wenn sie auch große Glaubende sind – für eine Hebung des Bewußtseinsniveaus der Menschheit und helfen auf diese Weise, dem Wort Gottes mit immer reicheren und tieferen Fragen und Herausforderungen zu begegnen.

Wir können vom Römerbrief und ganz allgemein von der Schrift vergleichsweise mehr verstehen als sogar Augustinus, Thomas von Aquin und Luther, obwohl wir so viel geringer sind als sie, und das nicht nur wegen des Fortschritts der biblischen Exegese – der in der Zwischenzeit gewaltig war -, sondern auch weil wir neue Leiden erfahren und andere Lehrmeister der Menschlichkeit gehabt haben, als sie sie hatten.

In den christlichen Kirchen gewinnt ein Projekt immer mehr Boden, das eindeutig vom Heiligen Geist inspiriert ist: Bisher haben wir Christen Jesus Christus häufig im Wettstreit und in gegenseitiger Rivalität verkündigt und auf diese Weise unser Zeugnis in den Augen der Welt gefährdet. Warum sollte man nicht die epochale Gelegenheit aufgreifen, die der Anfang eines neuen Jahrtausends darstellt, um zu beginnen, in brüderlicher Eintracht – wenn auch jeder in der Achtung vor der eigenen Tradition – gemeinsam das zu verkündigen, was uns in unserem Glauben an Christus schon eint und was weit bedeutender ist als das, was uns noch trennt? Das vorliegende Buch möchte ein kleiner Beitrag zur Verwirklichung dieses Projektes sein. Es stellt den Versuch dar, eigene Intuitionen und Reichtümer jeder der großen christlichen Traditionen – der katholischen, der orthodoxen und der protestantischen – auszuwerten und dabei möglichst jene Punkte zu meiden, die nicht von allen, die an Christus glauben – oder zumindest von ihrer großen Mehrheit – geteilt werden. Der Römerbrief ist zu diesem Zweck hervorragend geeignet, weil er sich mit dem Tragwerk des Glaubens und des christlichen Mysteriums beschäftigt und alles andere beiseite läßt. Er stellt die ideale Basis für ein »gemeinsames Zeugnis« aller Christen dar.

Die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre«, die im Oktober 1998 zwischen der katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund erreicht wurde, verleiht dieser ökumenischen Lesart des Römerbriefes noch größere Aktualität und Dringlichkeit. Im Text der Erklärung wird der Wunsch formuliert, diese gemeinsame Lehre möge nun von den theologischen Diskussionen auf die Praxis übergreifen und gelebte Erfahrung aller Christen werden. Das vorliegende Buch möchte dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen. Es genügt nicht, das Wort Gottes zu lesen, zu studieren oder sogar auswendig zu lernen. Man muß »die Schriftrolle essen, sie verschlingen, ihren bitteren Geschmack im Innern verspüren und ihre Süße auf den Lippen« (vgl. Ez 3, iff Offb io, 9-I2), d. h. man muß das Wort Gottes assimilieren, es zu Fleisch vom eigenen Fleisch und zu Blut vom eigenen Blut werden lassen, erlauben, daß es innerlich verletzt und reinigt – zuallererst denjenigen, der dazu berufen ist, es den anderen zu verkündigen. Das ist es, was wir nun mit dem Text des Apostels tun wollen. Es ist ein großer Unterschied, ob man die Neunte Sinfonie von Beethoven in der Partitur liest, oder ob man sie unter der Leitung eines begabten Dirigenten in einer Konzertaufführung hört. Unsere Sinfonie ist der Brief an die Römer (und was für eine Sinfonie!). Gemeinsam müssen wir sie »aufführen«, sie zum Klingen bringen, sie mit Leben erfüllen, uns von ihr ergreifen lassen.

Wir haben das Glück, bei diesem Unterfangen von dem besten aller möglichen Dirigenten geleitet zu werden, vom Autor des Werkes persönlich: vom Heiligen Geist.